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Que-Cir-Que

Que-Cir-Que - mit Emmanuelle Jaqueline, Jean- Paul Lefeuvre und Hyacinthe Reisch
Executive Produktion Aladin - Produktion GmbH -
In Koproduktion mit Fliegenden Hamburg für das Kampnagel Gastspeil und dem Gastspiel auf dem Platz der Fliegenden Bauten.

Was Zirkus?
von Susann Karina Habraschka
... Für den Patron eines bekannten Zirkus - Unternehmens war der Anblick der Inszenierung des “Que - Cir - Que” nahezu niederschmetternd:
das sei doch kein Zirkus!
Wenn es kein Cirque ist, was ist es dann? Tanz? Theater? Ballett?
Die gängigen Pfade der Interpretation erweisen sich als untauglich.
Beim Versuch, eine eindeutige Zuordnung vorzunehmen, stolpert man über die Radikalität des so-noch-nicht-dargebotenen.
Wir sind zurückgeworfen auf uns selbst, auf die ur-eigene Wahrnehmung.
Das schiere Nichts foppt unsere Erwartungen, ein bloßer Arm wird aus der Versenkung gezerrt, die Hand tappt umher und findet -
eine Erleuchtung ...

(Text folgt weiter unten) (fotos © Cylla von Tiedemann)
Drei Akteure erzählen feinfühlig, humorvoll, mitunter grob, fast bedrohlich eine Geschichte menschlicher Passionen, sie erforschen Objekte, erkunden akribisch die Natur der Dinge, jedoch erobern die Dinge den Menschen, der plötzlich von seinen Erfindungen regiert wird, der Mensch, der sich in das Werkzeug seiner eigenen Entdeckung verwandelt und sich in höchst absurden Verstrickungen wiederfindet, aus denen er sich kaum noch befreien kann, der Mensch, der immer wieder in seinen eigenen Hinterhalt gerät und der das, was er liebt, dafür zu strafen versucht, der Mensch, der vor sich selbst zu fliehen trachtet und dabei wieder und wieder mit dem Weltenpfeiler (dem Mast in der Mitte) kollidiert... der Ironien, der spielerischen Überhöhungen von Liebe und Grausamkeit hat es viele in diesem universalen Rondell.

Also doch Cirque!?

Oder ist Zirkus erst Zirkus, wenn dem Zuschauer dramatisch sportive Höchstleistungen geboten werden?
Die Artisten des Que -Cir - Que sind weit davon entfernt, dem Selbstverständnis des Cirque lediglich ein anderes Etikett zu verleihen, sie sind den Bemühungen um eine Erneuerung des Cirque längst vorausgeeilt und identisch mit dem, was sie uns als Kreation vorschlagen.
Sie sind zum Menschen, zum Ursprung zurückgekehrt. Das macht sie zu Subversiven, zu nomadisierenden Vorboten eines andersartigen Kunstverständnisses.
Sie haben den Cirque repoetisiert.
19.7.97

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Welt zu dritt. In: DIE ZEIT, 19. Mai 1995
von Robin Detje

Was nicht passiert: Kein Trompeter spielt einen Tusch. Kein Trommler haut auf die Pauke. Kein Spaßmacher brüllt vor Lachen, damit auch wir vor Lachen brüllen. Keine Gymnastin im Glitzerkostüm fällt nach dem dreifachen Salto ins Netz (Tusch, Paukenschlag!), und keine Pferdeherde trägt Federbüsche über Sägespäne.
Im Zirkus wissen wir, was wir zu fühlen haben. Seine Niedlichkeit, der Clown, und ihre Begehrlichkeit, die Trapezkünstlerin, regieren unsere Reflexe. Notfalls hilft der Kapellmeister nach. Bei “Que - Cir - Que” tönt statt dessen regelmäßig ein heiseres Kichern vom Band:“That‘s it!He, He, He!” - Die Stimme von Janis Joplin aus dem Archiv ins Zelt transplantiert........

....Es wird allerdings (typisch Zirkus!) jemandem Wasser ins Gesicht geprustet: Erst küßt die Frau den schwarzen Mast des weißen Zeltes. Dann stellt sie sich dicht neben den Mann und spuckt ihn an. er blickt gequält. Er tritt nicht einen Schritt zur Seite. Ein Wasserstrahl trifft sein Ohr, seinen Schritt. sie demütigt ihn, damit er sie liebt. Die Frau reißt ihren Mund auf, er ist leer. Sie küßt den Mann, tritt zurük - und spuckt ihm noch mehr Wasser ins Gesicht:
Ganz zum Schluß wird der Zeltmast seinen großen Auftritt haben und selber Wasser spucken - einsam und alleine auf der leeren Bühne (die rund ist, aber irgendwie doch keine Manege) nur von ein paar Requisiten umgeben.

Es gibt also ein Zelt, so viel Zirkus soll sein. Es gibt drei Artisten, eine Frau und zwei Männer. Im Anfang ist die Bühne wüst und leer. Die Frau (Emmanuelle Jaqueline) erscheint und öffnet dicht am Mast die Falltür zur Hölle. Aus der Tiefe zieht sie einen nackten, bleichen Wurm und klebt ihn an den Holzpfahl: einen Arm. Er läßt an einer Stange am Mast einen kleinen Scheinwerfer kreisen, der ins Publikum leuchtet: der Arm aus der Tiefe, die neugierige Lampe und wir - das ist erstmal alles.
Der Mensch erscheint im Holozän, einer Welt vorerst noch bevölkert von unterirdischen Urwesen und unheimlich kreisenden Eisenteilen. Der Mensch erscheint in Form zweier Männer. Der eine langhaarig (Hyazinthe Reisch) zieht den anderen, kahl und bis auf ein Höschen nackt (Jean-Paul Lefeuvre) auf einem stählernen Schlitten auf die erdscheibenrunde Bühne. Draußen herrscht wahrscheinlich ewige Nacht und noch wahrscheinlicher tobt ein Schneesturm. Die Frau aber bringt das Licht: Sie trägt in jeder ausgestreckten Hand eine Kerze.
Jetzt verwandeln die beiden Männer den Schlitten in eine Wippe, stellen sich hoch auf, und ein kleiner Kampf ums Glück beginnt: Wem gelingt es als erstem, wippend eine Kerze auszublasen? Der Langhaarige gewinnt, er bekommt einen Kuß. Der Kahle bekommt eine Ohrfeige.
Das ist die Urszene dieses Zirkus, der ein Urzirkus ist - ein Zirkus aus einer Zeit, bevor die Clowns rote Nasen bekamen und herumzubrüllen begannen. Einer Zeit, in der die Dinge manchmal noch leben und die Menschen sich plötzlich in Dinge zu verwandeln scheinen. Zirkus-Holozän: eine Freu und zwei Männer, eine Wippe und zwei Kerzen, eine Ohrfeige und ein Kuß.
Der Sieger schreitet davon, der Verlierer muß die Bühne fegen. Aber aus der Strafe wird ein einsamer, träumerisch getanzter Liebesakt mit einem Besen. Das Leben in der Urzeit ist ein Spiel.

Kein Trompeter bläst einen Tusch. kein Kapellmeister gibt uns den Einsatz für unseren Jubel. Zirkus besteht aus Höhepunkten, "Que - Cir - Que" aus Übergängen. Die "Nummern" sind keine, sie sind tänzerisch und zart (auch fies und brutal, das Dreiecks-Psychodrama geht weiter!). Die Szenenwechsel, die mit unendlicher Liebe und Sorgfalt zelebrierten Umbauten (die in jeder schlechten Theaterinszenierung als lästige Umbaupausen zwischen der Präsentation zweier monumental-visionärer Bühnenbilder hämmernd und schwitzend verschenkt werden, stehlen ihnen mit Leichtigkeit die Schau.
Minutenlang quälen die beiden Männer unten und hoch oben am Mast, über - und untereinanderkletternd, der Langhaarige im Bewußtsein seiner Macht, der Kahle mit traurig himmelhochgezogenen Augenbrauen bis, als wär's ein Versehen, die beiden Gummiseile von der Stange hängen, an denen die Frau sich gleich graziös wie ein Frosch um die Bühne schwingen wird.
Der Umbau ist ein Fest, die Attraktion - ein unglaublicher Spagat nach dem anderen - wirkt wie ein Unfall, jede Überdehnung von einem häßlichen Stöhnen aus dem Off begleitet. Wer jubeln will (und wer will das bei "Que - Cir - Que" nicht?), muß alle Gründe vergessen, aus denen er bisher zu jubeln gelernt hat.
Jean- Paul Lefeuvre tanzt mit einem weißem Fahrrad, wie er gerade noch mit einem Besen getanzt hat - aber ebenso gerne sitzt er einfach nur zusammengekrümmt darauf herum. Und immer, wenn er Schwung braucht, hängt zauberhafterweise ein Kollegenfuß in der Luft, an dem er sich abstoßen kann.
Er ist der Melancholiker, Hyacinthe Reisch der rohe Kraftmensch, der sich in und auf ein riesiges, stählernes Röhnrad wirft und es schwitzend herumstößt. "Yes, I'm the great pretender", klingt es dazu vom Band. Wo Lefeuvre seine Partner - die Dinge, Besen, Räder - sanft verführt, feiert Reisch gefährliche Orgien mit ihnen.
Und Emmanuelle Jaqueline ist niemand anderes als die strenge Domina dieses Abends, die mit ihren Ohringen eine Stange zwischen zwei Seilen befestigt, auf dieser Trapezschaukel einen Meter über dem Boden um den Mast fliegt, ihn verliebt mit den Augen verschlingt, aber nie erreicht, und ihre Kreise plötzlich als Fisch weiterzieht. So kaltblütig, wie sie zu Beginn den Langhaarigen erkoren hat, flirtet sie später mit dem Kahlen und erdrosselt noch später - in einem kleinem Mörderspiel - mit Hilfe des Nebenbuhlers den Geliebten von einst. "Que - Cir - Que" ist auch ein Theater der ungerührten Grausamkeit.
Die Domina bestimmt das Spiel. Und als sie einem Rad, das sich eben noch wild in der Armbeuge des Kahlen gedreht hat und jetzt in einem kleinen Loch im Mast steckt, mit dem Finger den Abgang befiehlt, springt es aus der Halterung und rollt selbständig von der Bühne. Zurück in den Schneesturm.
Wen wundert das? Die Dinge sind an diesem Abend nicht nur gehorsam, sondern auch höflich. Ein Scheinwerfer rückt, als der Kahle an einer Stange hängt, sofort fürsorglich zur Seite. Und ganz unhöflich, von seinen Rivalitätsgefühlen besessen, klebt der Langhaarige den Kahlen kopfüber an den Mast wie einen Gegenstand. Für eine Sekunde wird das Zelt zum Gulag.
"Que - Cir - Que" ist ein Nachfolger des "Cirque O, der 1991 umjubelt durch die Lande zog. Die Artisten kommen aus der Pariser Zirkusakademie von Jack Lang. Obwohl sie farbige Kostüme tragen, glaubt man am Schluß, ein Spektakel in Schwarzweiß gesehen zu haben - monochrome Erscheinungen, die für ein paar Minuten, für ein Tänzchen, ein kleines Spiel, aus dem Nichts treten und wieder im Nichts verschwinden. Was sie tun, hat so häßliche Namen wie Pantomime oder Bodenturnen, aber die vergißt man scnell, glaubt, ein herzzerreißendes Bild für sein eigenes, entsetzlich endliches Leben vor sich zu sehen.
Eigentlich ist "Que - Cir - Que"ein trauriges Programm - der Hauch von Eiswüste verschwindet nie. Und trotzdem ist die Begeisterung des Publikums vom "Roncalli"-Taumel kaum zu unterscheiden. Vielleicht weil man als Zuschauer von den Artisten so entschlossen bei der Hand genommen wird. Es gibt keine Sekunde, in der die Fürsorge der drei auf der Bühne für sich selbst, füreinander, für ihre Requisiten und ihr Publikum nachläßt. Immer ahnt man die ewige Nacht jenseits der Zeltwand, aber man ist nie allein.

Natürlich prahlt man bei "Que - Cir - Que" mit den Abgründen des eigenen Programms und wirbt mit Becketts Satz "Ein Spiel. nicht weniger". Das Nichts und das Spiel: Unter solchen Gedanken kann eine Zeitungsseite leicht zusammenbrechen - und eine Zirkusvorstellung erst recht. Deshalb wird jetzt im Zelt die Bühne ganz schnell in eine Bar verwandelt, und die strahlenden Künstler tragen Freibier ins Publikum. Draußen mag der Schneesturm toben, drinnen gibt es erst einmal ein Fest. So ein Glück.

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     Die Geburt des Quecir
    (apropos QUE - CIR -QUE)
    von Jean - Michel Guy

QUE CIR QUE CIR QUE... Die Wiederholung des Que in QUE-CIR-QUE suggeriert die endlose Bewegung des Rades - dem Grundthema der Performance - und damit unweigerlich das Zeichen des Sysiphos, ganz so wie die Wiederholung der Syllybe Ci in CIRQUE ICI von Johann le Guillerm, dem Freund und Begleiter der Artisten des Que-Cir-Que aus erster Stunde, und wie sie aus dem CIRQUE O hervorgegangen, das Thema der ewigen Wiederkehr aufgreift: Cir Ki Cir Ki Cir.

Das O, Kreissymbol ihres gemeinsamen Ursprungs, definiert in beiden Fällen ein Zentrum und eine Achse, um ein Rad zu schlagen. Das Rad der Geschichte, das Glücksrad, das Rad des Schicksals, das Rad der Zeit, das immer verhängnisvoller zu neuem Schwung ausholt.

Die Bedeutung der beiden Titel, QUE-CIR-QUE und CIRQUE ICI, übertrifft unterdessen die alleinige Evokation eines Themas: das eine und das andere stellt den Zirkus in Frage und darüberhinaus den Sinn der Kunst. Das Ici in CIRQUE ICI akzentuiert zudem den Anspruch auf die anarchistische Tradition (das wahre Leben ist niemals anderswo, es ist hier, singt Léo Ferré in Erwiderung Arthur Rimbauds): um ein Engagement im Hier und Jetzt kundzutun, und um aus der Not heraus den Gebrauch der räumlichen Kategorie als Selbstverpflichtung anzunehmen, da der Ausdruck "zeitgenössisch" in "art contemporain" als Prestigegewinn für die Elite seine zeitliche Konnotation verloren hat. Johann le Guillerm übernimmt die Kategorie Zirkus als Ersatz und sollte jemand deren Echtheit in Zweifel ziehen oder ihn der Usurpation bezichtigen, dann hier, das heißt, was auch geschieht, es muß hier und nicht anderswo besprochen werden.

Um uns der politischen Stellungnahme des QUE-CIR-QUE anzunähern, bedienen wir uns der Metapher vom Ei: wir trennen Eidotter und Eiweiß, entfernen die Schale, ist das Ei nun noch ein Ganzes? Wenn die Syllaben Que und Cir mittels Metonomie "Teile" des Wortes Zirkus darstellen, erhalten diese dann ihre Identität zurück, wenn sie wieder zusammengesetzt werden? Ja, und zwar die des Cir Que beziehungsweise kompensiert der Großbuchstabe des Que den Seufzer zwischen beiden Syllaben. Aber oder vor allem entschädigt die Geburt des Que Cir, die möglicherweise das Vorspiel der Erfindung eines neuen Genre darstellt, den Bruch mit der Tradition.

So der Titel nicht überzeugt, der Untertitel oder besser "Werbespruch", der dem Plakat in La Villette hinzugefügt wurde, läßt keinen Zweifel: "Cirque d'avant-garde ou théâtre de cirque?" Hier wird die Frage nach der Identität gestellt.

Alles richtet sich also nach dem Blickwinkel oder dem Standort. Was die Artisten angeht, wurde der Sachverhalt verstanden: die vorangegangene Fusion von "Ministère de la Culture", "Direction de la Musique et de la Danse" und der "Direction du Théâtre et des Spectacles" in ein und dieselbe Verwaltung bzw. "Direction des arts de la scène" (oder des Spektakels?) erklärt gewissermaßen die Entwicklung zur "l'art totale", in Verwerfung oder auf Grund der Unverträglichkeit der Grenzen zwischen den Künsten, die bereits ihre guten Tage hinter sich gelassen haben.

Von Pina Bausch und ihrem Tanztheater zu Lloyd Newson und seinem Körpertheater, den "unklassischen" Tanz eines Verret oder eines Nadj überspringend - die Liste der Reibungen, der coitalen Fügungen, ob unterbrochen oder nicht, der Hybriden und wahren Monster wäre endlos, die das Aufeinandertreffen der Künste veredeln und bereits hervorgebracht haben; das Obszöne, die Vermischung sind viel mehr Regel als Ausnahme.

Was das Publikum angeht, so haben sich diese wunderbaren Enthüllungen weit von ihm entfernt.
Wieviele Mütter sind darüber beunruhigt, ob in QUE-CIR-QUE Clowns und Tiere vorkommen? Wetten wir: keine, denn so lange der Untertitel ein gealtertes obgleich gesellschaftlich wirksames Wort zulässt, scheint die vorauseilende Avant - Garde ihre Kinder von sich fernzuhalten.

Jean - Paul Lefeuvre, der eine der drei Persönlichkeiten des QUE-CIR-QUE verkörpert, und den ich in der Folge den "Kahlgeschorenen" nenne, sagt dazu: "unsere Technik schafft einen Ausgleich zu derjenigen des Zirkus", ferner, "wir haben niemals eine Auseinandersetzung über die Grenzen zwischen Zirkus und Theater geführt" und weiter "eine Erklärung zu finden, um sagen zu können, das ist Zirkus, Tanz oder Theater, ist eher schwierig. Einige meinen, über Musik zu sprechen ist wie Architektur zu tanzen".

Heisst das, dass die Autoren des QUE-CIR-QUE sich im Grunde genommen im Kern der Frage, dem Untertitel "Cirque d'avant-garde ou théâtre de cirque?", wiedererkennen? Da genau träfe den Bereich der Frage, der eine Begegnung mit ihnen auf sozusagen philosophischem Niveau ermöglicht. Ein Bild der Aufführung verdeutlicht das Problem: man sieht Emmanuelle Jaqueline (einen Charakter darstellend, den ich "die Schöne" nenne) die Bühne auf Ballettschuhen überqueren. Sie läuft auf einem Fuß Spitze, auf dem anderen barfüßig, sie tut es so lala, und das Ensemble der Aufführung weiß nicht recht, auf welchem Fuß sie eigentlich tanzt. Das Bild ist nicht nur paradox oder ironisch, was so erscheinen mag: es lenkt die Aufmerksamkeit auf das Wanken zwischen beidem, zwischen klassischem Modell, das die Spitze symbolisiert - und das der klassischen Akademie im allgemeinen (im Tanz wie im Zirkus) und dem zeitgenössischen Modell, das den Körper keiner Disziplin unterordnet. Mir scheint, dass die Artisten des QUE-CIR-QUE akribisch in allem die Einfachheit suchen, um sich von der Schizophrenie zu befreien, in welche sie eine akrobatische Ausbildung klassischen Typs verstrickt, die sich auf Kraft, Ausdauer und Grazie etc. gründet und stattdessen eine zeitgemäße Philosophie anstreben, die die Erfindung eines von allen Zwängen befreiten Körpers intendiert.

Ich möchte an dieser Stelle nicht die Unterschiede zwischen traditionellem und Neuem Zirkus aufzählen, den ich ausführlich essayistisch erörtere, um zumTheater von Heute vorzudringen - ich muß aber ausdrücklich betonen, dass die Headline diesen Spektakels eine essentielle Frage aufwirft - was ist Zirkus, was ist er nicht, was macht Zirkus, was nicht, was kann Zirkus und was nicht - und daß dieser (der hier besprochen wird) eine einzigartige Antwort zu geben versteht.

Jeder seine Berufsbzeichnung verdienende Künstler führt gleichermaßen zwei Diskurse: einen universalen (über den Menschen, die Gesellschaft usw.) und seinen eigenen künstlerischen, der dazu beiträgt, neue Akzente zu setzen. Oft werden das Thema und dessen Umsetzung vermischt: beispielsweise "beim Theater im Theater", das einer großen Befähigung bedarf, um nicht selbstgefällig zu wirken.

Vielfach hat die Zirkusbranche die Bezeichnung "Zirkus" vereinnahmt - ablesbar an den Copyrights der Spektakel (Welt des Zirkus, Zirkus-Image), aber es ist wirklich selten, dass Zirkus einen Metadiskurs hervorgebracht hat.

Das Thema des QUE-CIR-QUE betrifft also weniger den Zirkus als "die Gesellschaft der Individuen" (ich komme noch darauf zurück). Nichtsdestotrotz stellt dieses Ereignis die Frucht einer sorgfältigen Reflexion dar, einer wirklichen Feldforschung typischer "Probleme" speziell der Zirkusleute, wie die Frage nach dem Ungeschick, der gestischen Verknüpfung, der Dauer, der Verbindung zwischen Ton und Bild, der Macht über den Applaus, der Beziehung zum Publikum, so dass die von den Artisten bewirkten Aufschlüsse das Ensemble tatsächlich als "Neuen" Zirkus definieren (der in keinem Fall DER neue Zirkus ist). Ich bin überzeugt, dass das Thema offenbar - um genau zu sein die außerordentlich soziale Einrichtung einer auf sich bezogenen Welt - aus der Recherche über die Möglichkeiten und Grenzen des Zirkus resultiert und nicht aus seinem Gegenteil.

Um dem Verständnis des QUE-CIR-QUE näher zu kommen, schlage ich eine geeignete, fast didaktische Methode vor, die darin besteht, die Anfangsfrage zu wiederholen: "Cirque d'avant-garde ou théâtre de cirque?", um meinerseits die nächstliegende Frage zu stellen, war es Tanz? um dem disjunktiv gebrauchten ODER, das nichts offenläßt, mittels Fragezeichen zu entgehen.

QUE-CIR-QUE fließt über vor choreographischen Referenzen an den klassischen und den zeitgenössischen Tanz, an Partner - und Modetänze und sogar an Butoh. Ich kann sie innerhalb des mir zur Verfügung stehenden Platzes hier leider nicht alle aufzählen.
Diese Referenzen haben verschiedene Chiffren: das Zitat (des Bildes, des Spektakels, wie zum Beispiel LE LAC DES CYGNES, CENDRILLON, LE DAPHNES ET CHLOÉ von Jean-Claude Galotta, EINSTEIN ON THE BEACH), den Einfall (den Partnertanz und allgegenwärtig in der Vorführung - die Artisten stützen einander im wahrsten Sinne des Wortes, so daß der eine zusammenbrechen müsste, wenn der andere ermatten würde; dieses Anlehnen symbolisiert eine dritte Kraft, die "Solidarität", die Träger und Getragenen demonstrativ im "Sich-getragen-fühlen" vereint). In mancher Hinsicht belebt der zeitgenössische Tanz vor allem die Idee, daß sämtliche Körperpartien mobilisiert werden können (und daß der Körper sich immer wieder selbst erfinden muß). Jenseits der "Referenzen" handelt es sich darüberhinaus um eine "Instrumentalisierung" des Tanzes: diese stabilisiert die Verbindung, den Übergang zwischen zwei "gordischen Knoten", zwei Faktoren, die alles verändern können. Semiotisch betrachtet führt dies zu einer Eskalierung: plötzlich tritt der Plan des "Handlungsträgers" in einem anderen in Erscheinung, ein "Ich" taucht im anderen auf, beispielsweise das des Erzählers in dem des Agierenden. In QUE-CIR-QUE gibt es eine Fülle solcher Momente, die vom Tanz zusammengehalten werden. Was die Absichten angeht, verbinden oder trennen sie sich, wie diejenigen des Zirkus und des Theaters oder um noch genauer zu sein, diese sind so grundverschieden wie Gefühls - und Naturzustände, beispielsweise die Identifikation (mit einer anderen Person) und die Unmöglichkeit, sich (mit einer übermenschlichen Erscheinung) zu identifizieren.

Den "Funktionalismus" einer solchen Analyse sollte man nicht als Tanz in "reiner" Form begreifen, die sich von emotionalen Zusammenhängen distanziert hat. Im Gegenteil: die "komplexeren" Momente auf der emotionalen Ebene des Spektakels sind in Wahrheit diejenigen - und das ist möglicherweise eine Neudefininierung des €sthetischen - in denen die historischen Eigenschaften der drei Gattungen Tanz, Theater und Zirkus miteinander verschmelzen, um eine Wertung auszuschließen, so wie das Bild, in dem der "Kahlgeschorene" mit großen und langsamen Schwüngen sein pedalloses Fahrrad beschleunigt, um darauf stehend seinen Traum des Flieges zu verwirklichen. Die Fusion der drei Gattungen wirkt in diesem Bild total: die akrobatische Leistung ist so unglaublich, dass nur Applaus uns erleichtern könnte, aus Angst die Sprache zu verlieren, aber wie könnten wir dem Artisten applaudieren, dem großen Komödianten, der uns unmerklich zum Schweigen auffordert im Angesicht seines Traums von der menschlichen Schwerelosigkeit, dem Tanz in seiner Absolutheit.

Ohne Worte (außer einigen Glucksern hier und da und dem Text des Chansons, der den Tanz der "Schönen" begleitet) ist QUE-CIR-QUE vor allem ein visuelles Ereignis, verzeihen Sie mir die Tautologie. Schweigsam und doch eloquent (glücklicherweise nicht geschwätzig) wird eine Geschichte erzählt mit einem Anfang und einem Ende wie aus dem Leben von Mann und Frau, aber in Wirklichkeit ist weder das eine noch das andere wie im richtigen Leben. Ein Bericht(?), wenn man will: eine Frau spielt zwei Freier gegeneinander aus, schließlich entfacht und mustert sie das Verlangen desjenigen, den ihr Herz auserwählt hat. Oder so: drei eingeschlossene Individuen können nur instabile oder unstete Paare bilden (da zwei von ihnen gleichen Geschlechts sind, kommt es gemäß der heterosexuellen Hypothese zu ständigen Rivalitäten untereinander oder zur Ablehnung des Dritten gemäß der homosexuellen Hypothese... und es gibt QUE-CIR-QUE analog zur Hypothese der generellen Ambiguität).

Jede der drei Personen des QUE-CIR-QUE wird offensichtlich von einer unersättlichen Fiktion drangsaliert (die an Wahnsinn grenzt: die Megalomanie des "Bärtigen", verkörpert von Hyacinthe Reisch, die Paranoia des Kahlgeschorenen, der Exhibitionismus der Schönen): Schärfe, Auserlesenheit, selbst die "Exklusivität" des begehrten Objekts verbieten das Zusammenkommen mit demjenigen Objekt. Ihre Kontakte scheinen zum Scheitern verurteilt. Nur die soziale Verbindung hält noch stand. Wir befinden uns in einer "Gesellschaft von Individuen", um an die Überschrift einer Schrift von Norbert Elias anzuknüpfen, und obendrein in einer "Gesellschaft von Autisten", die unfähig sind, sich untereinander zu verstehen, und noch weniger in der Lage sind, sich zu lieben, obwohl sie sich danach sehnen. Kein Blutsband oder Gemeinwesen hält sie zusammen, sondern eine befremdliche Form sozialer Koexistenz, in der sich individuelle Unterschiede und Egoismus zuspitzen und wo Liebe, so sie noch möglich ist, keinen Bund fürs Leben schließen kann, da sich die Fantasmen nicht aussöhnen lassen. Um diese bis ins Krankhafte gesteigerte Individualimus-Metapher zu vermitteln, müssen die Artisten ständig kooperieren und Gesten austauschen, die höchste spielerische Präzision erfordern, wobei im übrigen "Vertrauen" und "Solidarität" noch als die harmloseren Gegensätze des Spektakels in Erscheinung treten. Das also ist das theatrale Thema des QUE-CIR-QUE: eine Frau mit ungestilltem Liebesverlangen begegnet zwei von der Liebe frustrierten Männern in der stolzen Zuversicht, das ihrerseits demographisch schon alles entschieden ist: nämlich dass sie den Besten von beiden bekommen wird. Glaubt sie! Der Kahlgeschorene ist außerstande sich mit dem Bärtigen zu messen, der kein Motiv hat, sich ihretwegen zu verausgaben, zumal sie ihn in seinen Augen demütigt. So schwankt die Schöne berechtigterweise zwischen Onanie als Selbstschutz und dem Risiko, bei unterlassenem Widerstand in die Hände eines Souveräns zu geraten. Wenigstens schwankt sie. Der Kahlgeschorene hat nicht diese Möglichkeiten, seine Furcht ist zu groß, seine Abwehr sehr solide, wie das Bild beweist, als die Schöne ihm seine weiße Unterhose auszieht und darunter eine identische Unterhose enthüllt. Ein dennoch zu schwacher Schutz, so dass der Kahle instinktiv seine Hände zwischen die Beine führt, als wäre sein neues Höschen schon sein Geschlecht oder als habe man im Grunde genommen anstelle des Sex nur Unterhosen. Was den Bärtigen in seinem an den Krieger Samson erinnernden Lederwams betrifft, so geht er - extrovertiert und als Antithese des Kahlen - mit ihm ein leidenschaftlicheres und vage sado - masochistisches Verhältnis ein statt mit der Schönen, deren Verführungskünste scheitern.

So wird verständlich, dass die Gefühle, denen der Zuschauer in QUE-CIR-QUE ausgeliefert wird, zu großen Teilen der Identifikation mit den Personen geschuldet sind oder zumindest etlichen Zügen ihres Charakters oder ihrer Erscheinung: diese "Monster" verkörpern unseren Mangel, unser Zögern, mehr noch den tiefen Spalt zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichem, dem wir standhalten. Diese Persönlichkeitsstrukturen haben Bestand in dem, was sie tun, und selbst wenn sie ihre Haltungen innerhalb des Stückes ändern, bleiben sie sich treu und bestärken unseren Glauben in dieses "Es" (dem Begehren, der Perseveranz des Seins im Sinne Spinozas, dem Lacanschen "Drängen nach Dauer ") das uns nicht verändert, obgleich wir anders werden.

Außer ihrer technischen Funktion (sie vereinen eine Serie disparater Elemente, die im traditionellen Zirkus "Nummern" genannt werden, aber hier als Portraits bezeichnet werden müßten) aktualisieren die Personen Mythen (Aphrodite zwischen Ares und Hephaistos bzw. die Nymphe Echo zwischen Narziss und seinem Double) und insbesondere den Sysiphos-Mythos.
Jeder von ihnen kompensiert seine immer wiederkehrende Einsamkeit mit Hilfe eines transistiven Objektes: dem Fahrrad des Kahlen, dem Rhönrad des Bärtigen, den Gummiseilen der Schönen.
Diese drei auf leerer Bühne verwandten Objekte sind symbolische Entsprechungen der Persönlichkeiten im doppelten Sinne: sie erhärten die eigene Präsenz und fungieren als Platzhalter, denn die Personen selbst sind begehrte und verstossene Objekte zugleich.

Über die unmöglichen erotischen Beziehungen dieses Dreigespanns gäbe es noch mehr zu sagen. Kommen wir nun zur "vierten Person", um die es eigentlich geht, dem allgegenwärtigen Phallus - störend, unumgänglich und fehl am Platz - dem Mast im Zentrum, der wie der Holmen eines Regenschirms die Zeltwand trägt.

Dieses szenische Dispositiv des QUE-CIR-QUE ist die ideale Auflösung dessen, was dem traditionellen Zirkus nie gelungen ist: dessen vollkommene Umsetzung: ein niedriges Zelt, das von nur einem Pfeiler gestützt wird. Kein Pfosten behindert die Sicht, egal wo man sitzt. Mehr noch: die drei Bühnenzugänge für die Artisten bilden als gleichförmiges Dreieck überkreuzt mit den Zuschauereingängen einen Davidsstern. Publikum und Artisten sind also mittels Anordnung geometrischer Figuren - einem Kreis und zwei Dreiecken - organisch verwoben. Man behauptet, der tradtionelle Zirkus kultiviere den Mythos, sich wie im "Kreise der Familie" zu fühlen: die runde Form des Zeltes gelte allen Zuschauern als Beweis für den Traum von der Gleichheit, aber sie verklärt das Zusammengehörigkeitsgefühl mittels einer Art Früh - Babel, das die sozialen Unterschiede ignorriert. Die Realität verhöhnt den Mythos, weil man meistens in traditionellen Zelten sowieso nicht gut sieht, und wo im Grunde genommen die Artisten ihre Leistungen für die Situierten erbringen, für die Logen mit Blickkontakt zum Orchester eingerichtet sind. Nichts von alldem in QUE-CIR-QUE: der Blick des Zuschauers prallt auf die Artisten nicht mehr und nicht weniger als auf das eigentliche Hindernis - den Hauptmast. Dieser Mast ist das Refugium des Kahlen, der ihn bis unter die Zelthaut erklimmt, als wäre er ein Gejagter, aber vielmehr ist er das Opfer seiner Paranoia als das einer tatsächlichen Verfolgung. Er klebt an ihm in seiner Furcht und gänzlich von ihm angesaugt, indes der Bärtige daran kollidiert und zerschellt und die Schöne sich an ihm festgurtet, um sich ihrem Traum vom Fliegen hinzugeben. Dieser Mast, die Weltachse, dreht sich wie die Achse eines Rades, ebenso wie die Welt, um sich selbst. Dass wir uns nicht falsch verstehen: er ist zwar fest installiert, aber eines der Bilder, in dem der Kahle getragen vom Bärtigen kopfüber auf der Zelthaut schreitet, erweckt Eindruck, als befänden wir uns auf einer Drehscheibe - die viel gewaltiger ist als das Riesenrad des Bärtigen, an dessen Umdrehungen er sich berauscht, und sie ist um einiges instabiler als das Phantasierad des Kahlen.

Wir befinden uns in einer Art magischen und grausamen Zirkustotale. Alles ist bedacht: die Bühne, das Zelt, der Clown (in Gestalt des Kahlen als atypischem August, der uns mit den Grimassen eines terrorisierten Kindes und mit gedankenverlorenem Blick, mehr noch als seine Marotten es tun, zum Lachen reizt) die Akrobatik und die Höhenflüge. Ferner befinden wir uns im Tierreich, denn die Schöne selbst ist die versammelte Tierschau: sie erscheint als kreischende Möwe, Spinne, Fledermaus, Ente, Frosch, Schwan, Hirschkuh, Panther, Maus, Fisch und Lama (und was noch alles).

Aber vor allem befinden wir uns einem Reich absoluter Virtuosität: Die Artisten bemühen sich um höchste Perfektion, konzentrieren und kanalisieren ihre Energien, um unsere Gefühle zu sensibilisieren, aber wir haben es schwer, uns im befreienden Rhythmus des Applauses zu behaupten, als wenn der verkehrte, zerstörte, abnorme Zirkus für Augenblicke wieder in seine Rechte eingesetzt wäre. Die Nüchternheit des Dekors (reduziert auf einen einzigen Mast und zahlreiche Objekte - Rad, Reifen, Besen, Zigarre u.a.  - was die Ästhetik des Spektakels als Kunst pur hervorhebt) verstärkt den Eindruck, dass der Stoff der Aufführung die Virtuosität selbst ist, nämlich das Vermögen, körperliche Zustände in ihrem höchsten Grad an Geschicklichkeit zu erfassen und auszudrücken.

Die Verfeinerung - niemand spricht von "Züchtigung" oder gar "Manieriertheit" - bildet einen Kontrast zum "barbarischen" Auftreten der Künstler - und die elementare Gewalt einiger ihrer Herausforderungen legt somit eine allgemeine soziologische Interpretation nahe: das was hier gezeigt wird, ist ebenso das Bemühen von Vagabunden, den Verhaltenskodex der Chickeria auszuloten, und das meint aus ihrer Sicht deren Erhabenheit über die Kultur und ein Übermaß an Entfremdung.

Übersetzung: Susann Karina Habraschka

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TAGESSPIEGEL KULTUR
Die Erde ist eine Scheibe. Glanzlicht, ungrell: “Que - Cir - Que” im Hof des Tacheles.
von Jan Schulz - Ojala


Am Anfang war der Kreis. Zirkus, aus lat. circus = Kreis, schreibt der Deutsche Universal-Duden; dieser Zirkus ist das Rund an sich. In wenigen Reihen sitzen die Zuschauer im Kreis, nirgends behindern Pfeiler den Blick, bloß damit die Manege frei bleibt, sondern ganz in der Mitte spielt der Zeltmast Zirkelschenkel, Affenpalme, Traumtrapez. Von seiner Spitze fließt die Zeltbahn ungewinkelt zum niedrigen Rand: weißer, weicher Himmel. Und die Erde ist - nur für heute - noch einmal runde, schwarze, aristotelische Scheibe.

Zirkus, auch Unternehmen schreibt der Duden, der Zirkus kommt. Und was für ein Zirkus: "Que - Cir - Que"! Er kommt aus Frankreich, hat statt teutonischer "Notausgang" - Schilder drei sanft beleuchtete "Sorties de secours", ist aus dem erotisch - poetischen "Cirque O" des Ueli Hirzl hervorgegangen, der auch die Bar jeder Vernunft mitgegründet hat. Letztere setzt nun zusammen mit dem Hebbeltheater und dem Tacheles dem Berliner Kulturleben wieder einmal ein gar nicht grelles, aber um so erinnerlicheres Glanzlicht auf - am selben Platz wie letztes Jahr der chilenische Zirkus "Popol Vuh"; auch sein Gastspiel war nur durch die Zusammenarbeit engagierter Veranstalter möglich geworden.

Zirkus, auch Zirkusvorstellung, weiß der Duden weiter, der Zirkus beginnt um 20 Uhr und tatsächlich, er beginnt um diese Zeit und dauert traumkurze anderthalb Stunden. Drei Künstler (oder große Kinder?) spielen Zirkus: sie haben nicht vielmehr als zwei Seile, Fahrradschläuche, eine Felge, einen Besen, einen Schuhputzkasten dabei, ja und ein kubistisches Fahrrad, eine seltsame Schlittenwippe und ein schweres Rhönrad haben sie sich auch noch gebastelt. Damit spielen sie, und die Dinge spielen mit ihnen. Jean- Paul Lefeuvre, der athletisch unerschöpflich belastbare Chaplin - Clown, stoppelhaarig, nur mit Turnslip bekleidet; Hyacinthe Reisch, der melancholisch-drahtige dumme August mit Wallehaar; Emanuelle Jaqueline, die stämmige Urfrau mit Engelsgesicht: sie spielen Dreieck im Kreis, Feinde und Herrscher und Liebende und Diener und Freunde.

Publikum einer Zirkusvorstellung, auch das ist Zirkus laut Duden, der ganze Zirkus klatschte. Manchmal vergißt er vor lauter Atemlosigkeit zu klatschen, solche Augenlust ist er schließlich nicht gewohnt: ganz ohne Akrobatik-Maschinen, die ihr Leben lang nur eine Staune - Nummer perfektionieren, ganz ohne Großstadtironiker auch, die wenngleich hochartistisch, eben jene Nummern nur noch veralbern mögen. Flicflac gibt's hier nur zum Aufwärmen, kein Crescendo und und kein Tschingderassabum. Stattdessen fein dosierten Rausch: behutsam dreht "Que - Cir - Que" die Wahrnehmungsregler hoch und läßt sie auf hohem Niveau oszilieren. Auch jeder Aufbau, sogar jede Hilfestellung, wirkt wie eine liebevoll choreographierte Nummer für sich.

Auch die Musik ist eine Figur in diesem Spiel. Diskret grundiert sie Bilder und Bewegung, mit wiederkehrenden, einander umspielenden Takten, Einnerung an Kaffeehausgeiger, Tabla - Töne und die gurgelnden Rhythmen eines Tom Waits. Nur einmal führt ein selbstverliebtes Klimper-Solo den Felgen-Zauberer Jean-Paul am Gängelband, treibt ihn immer wieder zurück ins Weitermachen und doch nur in eine neue, zarte Heiterkeit.

Aber halt, wer anfängt, Gesehenes aus "Que - Cir - Que" nachzuerzählen, hört nicht auf. Zirkelschluß, warnt der Duden. Plötzlich ist alles zu Ende, und schon im Applaus wird eine Bar auf die Bühne geschoben, klobig verdeckt sie den Mast und die Mitte. Die Bühne füllt sich mit Leuten, weg sind die erschöpft erlösten Gesichter der Akteure, Premierenfeier, der Zirkus ist aus, und der Zirkus fängt an: großes Aufhebens, Trubel. Für unsere Augen ein bißchen zu früh.
Sonnabend, 19. November 1994

TAZ Hamburg
Ein Zirkus ist ein Zirkus ist ein Zirkus ist. . .

■ Minimal Art im Zelt auf dem Platz der Fliegenden Bauten mit „Que Cir Que“

Silbe an Silbe gereiht. Cirque, Zirkus, das Spiel im Kreis, ohne Anfang, ohne Ziel. „Das ist doch keine Arbeit, die wir machen“, kokettiert Hyacinthe Reisch mit dem, was seine Frau Emmanuelle und der Artist Jean-Paul LeFeuvre (alle auf dem Foto rechts) ins Rund stellen.

Im französischen Centre nationale des Arts du Cirque haben sie sich bei ihrer vierjährigen Ausbildung in Tanz, Akrobatik und Schauspiel kennengelernt. Die 1986 gegründete Talentschmiede brachte auch den Cirque du Soleil hervor. Am anderen Ende der Skala befindet sich Que Cir Que: pur, archaisch, extrem und verstörend komisch.

Ihr Equipment paßt in einen Container, mit dem sie seit 1994 schon durch vier Kontinente reisten. Überall schlagen sie ihr weißes Zelt rund um den Mast auf, der zum Mitspieler ihrer wortlosen Begegnungen, absurden Bilderwelten und beunruhigenden Komik wird. Dabei hat jeder seine Rolle. Der Glatzkopf Jean-Paul ist der lediglich mit einer weißen Unterhose bekleidete Tropf, der sich immer wieder oben auf den Mast rettet.

Emmanuelle ist die Raubkatze, die beim Kampf um einen Kuß die Oberhand behält, Elastikbinden zum Trapez umfunktioniert und teuflische Laute von sich gibt. Bleibt noch Hyacinthe, der androgyne Gaukler-Punk, der mit dem Zigarillo tanzt und Laufräder regiert.

Obwohl die drei Artisten Respekt vor dem traditionellen Zirkus haben, nutzen sie die Zirkustechniken nur als Werkzeuge, um Geschichten zu erzählen. Ihre radikale Simplizität fordert vom Betrachter eine geschärfte Wahrnehmung, ist aber gleichzeitig Auslöser für eine Reise zu sich selbst. Bei Que Cir Que funktioniert das, und zwar ganz ohne Merchandising: keine T-Shirts, keine CDs, keine Poster und keine Henkelbecher begleiten einen nach Hause. Was bleibt, sind die Bilder. Stefanie Heim

bis 18. Juli, Mi bis So, 20.30 Uhr, Platz der Fliegenden Bauten, hinter dem Hochhaus Millerntor
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